Der Nationale Volkskongress diskutierte in seiner Sitzung vom 21. Mai 2020 den Entwurf eines Zivilgesetzbuches (民法典). Das Vorhaben gilt als Meilenstein und erlaubt Rückschlüsse auf die Reife des volksrepublikanischen Rechtssystems.
Das Rechtssystem der Volksrepublik China basiert auf dem kontinentaleuropäischen Modell und nahm dabei ursprünglich insbesondere das deutsche Recht zum Vorbild. In der Zwischenzeit enthält es viele Elemente des anglo-amerikanischen Rechtskreises sowie natürlich „chinesische Besonderheiten“. Letztere sind vereinfacht gesagt derart zu verstehen, dass weder Gewaltenteilung noch unabhängige Justiz existieren, sondern eine Letztentscheidungsgewalt bei der Partei verbleibt. Es besteht daher auch keine Möglichkeit, den Parteistaat in Frage zu stellen und/oder zur Rechenschaft zu ziehen. Insofern handelt sich nicht um einen Rechtsstaat im eigentlichen Sinne (Rule of Law), sondern um eine mithilfe von Gesetzen organisierte Diktatur (Rule by Law).
In den letzten Jahren war es schwer, mit der volksrepublikanischen Gesetzgebung Schritt zu halten. Nahezu täglich werden neue Gesetze verabschiedet, verworfen und überarbeitet, um mit der raschen sozioökonomischen Entwicklung mitzuhalten. Daher ist dies bereit der dritte ernsthafte Anlauf seit Reform und Öffnung. Mittlerweile ist die Verrechtlichung derart weit fortgeschritten, dass man sich das Großprojekt eines Zivilgesetzbuches zutraut. Die zusammenfassende Kodifizierung trägt zu Klarheit und Verständlichkeit bei und vermag Widersprüche zwischen den über die Jahrzehnte entstandenen Einzelgesetzen aufzulösen.
Das neue Zivilgesetzbuch hat 1260 Artikel und ist damit nur etwa halb so umfangreich wie das deutsche BGB und der französische Code Civil. Es beginnt ebenfalls mit einem allgemeinen Teil (总则), der seinerseits fast identisch ist zu den Allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts von 1986, zuletzt überarbeitet 2017 (民法通则). Buch 2 behandelt das Sachenrecht (物权) und geht zurück auf das Eigentumsgesetz (物权法) und das Garantiegesetz (担保法). Buch 3 behandelt Verträge (合同) und geht auf das bestehende Vertragsgesetz zurück. Buch 4 über Persönlichkeitsrechte (人格权) ist neu dazugekommen und hat in mancherlei Hinsicht eine Sonderstellung. Das Familienrecht in Buch 5 (婚姻家庭) wiederum hat das Ehegesetz (婚姻法) und das Adoptionsgesetz (收养法) als Vorlage. Buch 6 behandelt das Erbrecht (继承) auf der Grundlage des Erbgesetzes (继承法) und Buch 7 schließlich das Deliktsrecht (侵权责任), zurückgehend auf das gleichnamige Gesetz von 2009.
Eine Verabschiedung des Gesetzentwurfs wird in wenigen Tagen erwartet. Im Detail mögen sich Änderungen ergeben, im Großen und Ganzen werden ist aber nicht mit wesentlichen Änderungen zu rechnen. Sobald die endgültige Fassung vorliegt mehr zu den Einzelheiten.